Alleskönner - Honda Crossrunner
Fahrbericht Honda Crossrunner
Text: Ralf Kistner
Fotos: Ralf Kistner, Tom Rueß
Da hat sich Honda was einfallen lassen. Wieder ein Motorrad, das für sich einen hohen Anspruch hegt: In vielen Disziplinen richtig gut zu sein und trotzdem einen eigenen Charakter zu haben. Mit letztem Anspruch wird es erfahrungsgemäß bei Japanern oft eng. Echten Charakter schreibt man trotz - oder gerade wegen so mancher Zickigkeit italienischen Bikes vom Schlag einer Moto Morini oder Benelli zu. Und DER Crossrunner? Ja, richtig, Honda ordnet diesem Motorrad ein männliches Geschlecht zu. Warum? Ist halt so – und eigentlich auch nicht von Bedeutung. Aber es fällt auf.
Was steht denn da nun vor mir, als ich die Maschine in Offenbach hole. Auf den ersten Blick ein bauchiges Funbike. Der hohe Lenker und der bequeme Sitz versprechen angenehme Kilometer und deuten auf eine spaßbringende Kurvenhatz. Alles, was Komfort bringen könnte, ist vorhanden, aber knapp bemessen. So mag ein Hauch einer Scheibe etwas Wetterschutz bringen. Die Instrumente versprechen nichts Gutes. Alles digital, vor allem ein Balkendrehzahlmesser, den ich schon im Stand kaum ablesen kann. Ansonsten kann ich mir die verstellbaren Hebeleien wunderbar individualisieren. Die Spiegel zeigen mehr Rücksicht als Aufsicht auf meine Arme – sehr gut!
Aufsitzen.
Die Sitzhaltung mit meinen 182 cm Körpergröße inkl. Waschbärbauch passt. Zwar muss ich die Knie in einen sportlich-spitzen Winkel bringen, doch kann ich mir vorstellen, auch weiter zu fahren. Meine Crossrunner hat das komplette Gepäcksystem inkl. Topcase verbaut. Vor allem Letzteres punktet mit sehr stabiler Scharniermechanik. Die Koffer sind dem System der VFR 800 ähnlich und fassen das Gepäck für eine kleinere Fernreise zu zweit.
Stichwort VFR 800: Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass der Crossrunner aus dem VFR-Baukasten entstanden ist. Der Rahmen, die Einarmschwinge, der Antriebsstrang, die Getriebeabstufung und die Endübersetzung stammen identisch aus der Honda VFR 800 V-TEC, die CBS-Kombibremse und das ABS ebenfalls.
Der Motor ist im Kern ebenfalls der gleich geblieben. Allerdings passte man bei Honda einiges an das neue Konzept an …
Unterschiede zur VFR 800:
Motorabstimmung mehr in Richtung Drehmomenterhöhung und Reduzierung der Spitzenleistung
Änderungen bei der V-TEC-Ventilsteuerung für bessere Leistungsabgabe und sanfteren Übergang vom Zwei- zum Vierventilbetrieb
Geänderte Auspuffführung: 4-2-1-Anlage mit seitlichem tiefliegenden Endrohr; dadurch Ermöglichung einer niedrigeren Sitzhöhe (816 mm)
Erhöhung der Bodenfreiheit um 15 mm
Längere Federwege
Hoher und relativ breiter Lenker
Fahrpraxis
Der Motor läuft gleich rund nach dem Kaltstart. Sehr leise die Geräuschkulisse im Standgas. Ich kann kaum Vibrationen spüren und lenke die Maschine in Richtung Fotokurve, wo Tom und ich heute die Fahrbilder erstellen wollen. Ich „rolle“ mich warm mit dem Crossrunner. Kein Problem, denn ergonomisch passt alles bis auf die Kröpfung der Lenkerenden. Die empfinde ich etwas zu weit nach innen gekröpft. Ansonsten komme ich hondatypisch ab den ersten Metern mit der Maschine klar. Bei langsamer Fahrt spüre ich die knapp 240 kg Leergewicht, wenn ich schnell die Richtung wechseln möchte. Ansonsten verhält sich der Crossrunner erfreulich neutral. Das komfortabel ausgelegte Fahrwerk verrichtet seinen Dienst ohne jede Beanstandung. So kann der Crossrunner beruhigt auf Tour seinen Einsatz finden.
Der V4-Motor schiebt die Fuhre im V2-Modus fast vibrationslos und ohne Leistungsloch bis an die 6500 U/min. Dank der langen Übersetzung reicht das durchaus für ein angenehm flottes Tourentempo, bei dem alles entspannt wirkt.
Möchte ich jedoch echten Druck mit grollendem Sound erleben, lasse ich den Crossrunner über die 6800 U/min wandern. Jetzt schalten sich die beiden zusätzlichen Ventile zu. Und schon geht die Post ab. Die Maschine drückt plötzlich mit Sportcharakter nach vorne. Aus dem V2-Säuseln entwickelt sich ein V4-Brüllen. Breites Grinsen stellt sich unter meinem Helm ein. Jetzt geht’s los!
Meine Teststrecken fordern dem Crossrunner-Fahrwerk nun alles ab. Die komfortable Auslegung erreicht auf welligem Belag sehr schnell seine Grenzen. Die Maschine wirkt leicht unterdämpft und beginnt mit Pumpbewegungen. Dennoch verliert der Crossrunner meine Linie kaum. So verhält er sich wunderbar neutral. Aufstellmomente beim Bremsen tentieren in Richtung null. Auch schnelle Schräglagenwechsel lassen den Crossrunner ruhig, obwohl das Motorrad pumpt und nachfedert.
Sicher auch ein Verdienst der in Serie verbauten Pirelli Scorpion Trail. Dieser Reifen harmoniert mit dem Crossrunner perfekt.
Beim Shooting kommt ein Bekannter mit seiner BMW S1000RR dazu. Wir fahren die Shootingkurvenkombinationen einige Male in und her. Tom hat sich so positioniert, dass er uns beide in Formation aufnehmen kann. Und so kommt es, dass ich nach einigen Fahrten mit dem Crossrunner auf der letzten Rille derart ruhig durch die Kurven jage, dass die BMW keinen Vorteil mehr herausfahren kann. Wow. Das hätte ich anfangs dem doch nicht leichtgewichtigen Crossrunner nicht zugetraut. Lediglich die kratzenden Fußrastennippel erinnern an physikalische Grenzen in Schräglagen.
So kann ich neben Touren mit dem Crossrunner durchaus im Revier der sportlich angehauchten Bikes wildern und für Unruhe sorgen. Allerdings sollte die Fahrbahnoberfläche einigermaßen eben sein. Welliger oder geflickter Belag fordern das Fahrwerk über seine Grenzen hinaus bei dieser Fahrweise. Darauf ist der Crossrunner primär nicht ausgelegt.
Ein sehr sicheres Gefühl vermitteln die Bremsen. Als Kombibremse ausgelegt kann ich rein über die Betätigung des Handbremshebels für derbe Verzögerungen sorgen. Das etwas grob regelnde ABS verhaut jedoch leider die möglichen Spitzenwerte an Verzögerungsleistung. Aber – das ist Meckern auf hohem Niveau. Trotz allem ist der mittelgewichtige Crossrunner bei einer satten Vollbremsung aus 100 km/h nach knapp über 40 Metern zum Stillstand zu bringen. Ein zeitgemäßer Wert, zu dem sicher die gut haftenden Pirellis einen entscheidenden Beitrag leisten.
Die Bremse kann vorzüglich fein dosiert werden und greift bei Bedarf mit wenig Handkraft vehement zu.
Fazit:
Der Crossrunner ist ein Alleskönner geworden. Die grundsolide Basis und der modifizierte V4-Motor aus der aktuellen Honda VFR 800 versprechen lange währenden Spaß. Mit der Maschine kann man in vielen Revieren räubern. Er kann überall sehr viel sehr gut, ist jedoch auf keinem Gebiet ein Spezialist. Und genau das macht ihn so liebenswert. Wie im richtigen Leben kommt man mit dem Crossrunner überall gut klar - wie mit einem guten Freund - und freut sich jedes Mal, wenn man gemeinsam was unternimmt.