Kawasaki ZZR 1400



Sanfte Wilde
Fahrbericht Kawasaki ZZR 1400
(Stand:06/2006)

Text: Ralf Kistner
Fotos: Ralf Kistner, Gitte Schöllhorn

Ich kann mich noch gut daran erinnern, als 1979 die eidgenössische Edelumbauschmiede EGLI die Turbo-EGLI-Kawa mit 180 PS auf die Beine stellte. Der Testredakteur schrieb, dass die Beschleunigung und Kraftentfaltung das Maximale wären, was Mensch und Material aushalten würden. 297 km/h Spitze, doch der Motor hielt die Weltrekordversuche nicht aus.

Die Erinnerung entlockt mir ein Lächeln, gibt es doch aktuell Serienmaschinen, deren Leistungsgewicht und deren Beschleunigungskräfte denen der Turbo-EGLI gleichen, die jedoch ohne Turboaufladung auskommen und standhafte Motoren besitzen. Die neueste Attacke auf die 200PS-Marke hat Kawasaki mit der ZZR 1400 gestartet. Aus exakt 1352 ccm Hubraum soll die Kawa 190 PS liefern bei 9500 U/min und den Hinterreifen mit einem potenten Drehmoment von satten 154 NM bei 7500 U/min quälen. Der 10-PS-Bonus resultiert aus der mittlerweile bei vielen Motorrädern verwendeten Technik des Ram-Air-Systems.

Ich bin in gespannter Vorfreude, als ich an einem schönen warmen Tag die Kawa in Friedrichsdorf beim Importeur abhole. In Gesprächen mit einem Kawa-Testfahrer bekomme ich die Philosophie der Leistungsentfaltung erklärt: „Target war, die Maschine im Alltag maximal fahrbar zu machen und die Leistung im unteren Drehzahldrittel nicht so vehement wie bei der ZX 12 R einsetzen zu lassen.“

Ich bin gespannt. Vor mir steht eine lange geduckte und an der Front neuartig designte Maschine, die nur so vor Kraft zu strotzen scheint. Nur die zwei Edelstahlauspüffe passen nicht ins Bild und wirken wie nachträglich angeheftet. Eine kleine feine 4-1 mit einem Stummel, der kurz vor dem Hinterrad endet, hätte diesem Kraftprotz meiner Meinung nach besser gestanden. Aber das ist Geschmackssache.

Ja, sie wirkt sehr lang, fast wie eine BMW K 1200 S/R, doch wartet sie mit überraschend kurzem Radstand von 1460 mm auf.

Sie steht vor mir in der Sonne in strahlendem Kawa-Blau-Metallic. Tolle Erscheinung, finde ich. Grausam meinen andere. Wie bei allem, was neu ist, gibt es schnell zwei Lager. Egal, die Maschine zeigt Innovation und ist immerhin derzeit die stärkste Serienmaschine weltweit.

Ich bin hungrig, mache mit der Kawa-Crew in der Werkstatt Brotzeit, und bleibe hungrig – auf die ersten Kilometer mit der Kawa.

Raus aus Friedrichsdorf. Die Autobahn ist voll. Ich nehme den Umweg über Land. Mittagszeit – Mittagshitze. Gut 30°C im Schatten. Kein kühlender Wind im Rhein-Main-Gebiet. In Offenbach und dem Speckgürtel darum immer wieder rote Ampeln. Der Lüfter der Kawa kommt schnell. Klar, denn 190 Pferde machen Hitze. Der Lüfter bläst mir an den Ampeln die heiße Luft an die Hände und im Stadttempo an die Knie und Oberschenkel. Unangenehm – ich giere nach offener Landstraße. Mir ist unangenehm heiß.
Endlich – raus Richtung Michelbach. 6. Gang – Ortsende – Gas Gas Gas – wo bleibt der Schub? Ich bin überrascht – schaue auf Tacho und Drehzahlmesser – gebe Gas. Es rührt sich jedoch nicht viel. Langsam klettert die Tachonadel an die 100er Marke hin. Knapp 3000 U/min liegen an. Es fehlt die Kraft, habe ich den Eindruck. Wo sind die ganzen Pferde? Wo finde ich das Drehmoment, das auf dem Papier so satt aussieht?

Sowas kenne ich von alten 600er Maschinen. Schaltarbeit, um Leistung zu bekommen. Nicht souverän im letzten Gang cruisen und bei Bedarf das vorhandene Leistungspotenzial abrufen.
Nein, auf der ZZR 1400 habe ich zwei Möglichkeiten, an Leistung zu kommen. Entweder warte ich ab, bis die 4000er Marke überschritten ist oder ich schalte einen oder besser gleich zwei bis drei Gänge runter. Dann jedoch heißt es langsam aufpassen, denn ab da steigt die Leistungsabgabe linear an, bis sie ab ca. 6000 U/min in einer Art Turboeffekt teuflischen Vorschub bringt und vollste Konzentration erfordert. Die Tachonadel scheint sich plötzlich ein Rennen mit der des Drehzahlmessers zu liefern. Plötzlich rast die Umwelt an mir vorbei in unglaublichem Tempo.

Das nenne ich Leistung, probiere das Szenario ein paar Mal im 3. und 4. Gang aus und halte danach an, um einen Blick auf den meiner Erfahrung nach nicht allzu haltbaren Bridgestone BT 014 auf dem Hinterrad zu werfen. Der sieht bis an den Laufflächenrand sichtbar gequält aus. Eindeutige Popelbildung an den Flanken. Ich glaube, dass ich die zwei Testwochen mit diesem Reifen nur überstehen kann, wenn ich diese fulminante Leistung nicht allzu häufig abrufe. Schade, denn das, was die Kawa über 6000 U/min abliefert, gehört nach dem Schub vom Turbo-Boxer vom Team-Metisse zum heftigsten, was ich bisher erlebt habe. Wohlgemerkt – im oberen Drehzahlbereich.

Wieder unterwegs Richtung Crailsheim. Die B 290 wird oft tempomäßig „gelasert“. Mit der ZZR kein Problem. Sanft in der Gasannahme kann ich sie gleichmäßig wie auf einem Komfort-Tourer über die weiten Kurven wedeln. Die Sitzposition wirkt insgesamt touristisch sportlich, wobei die hoch angebrachten Fußrasten einen spitzen Kniewinkel verursachen. Mit einer Sitzhöhe von 79,5 mm können auch kleinere Menschen die Füße auf den Boden bekommen. Die breit angebrachten Lenkerstummel erlauben einen sicheren Griff und einfache Kontrolle über die Maschine. Die Sitzbank wirkt seitlich schnell ausgesessen. Ich spüre den harten Rahmen, der zu schmerzen beginnt. Eine straffere Polsterung könnte das verhindern.

Endlich auf meinen Teststrecken. Das Fahrwerk zeigt sich unbeeindruckt von jedwedem fahrbahnseitigen Störversuch. Außer Bitumen bringt die Kawa nichts aus der Ruhe. Im normalen Fahrbetrieb schluckt sie Bodenunebenheiten weg, als ob es sie kaum gäbe. Lasse ich die ZZR 1400 laufen, liegt sie absolut stabil und überfliegt ungerührt linientreu in tiefen schnellen Schräglagen selbst deftige Fahrbahnfrechheiten.

Die Stabilität erklärt sich aus dem Aufbau von Rahmen und Fahrwerk von selbst. Der massive Alu-Monocoque-Rahmen nimmt den Motor als mittragendes Element auf. Die volleinstellbare USD-Gabel und die starke Schwinge ermöglichen mit dem ebenso voll einstellbaren Federbein einen genialen Fahrbahnkontakt.

Ich treffe mich mit einem Kumpel, um ihm als Guide ein paar Strecken zu zeigen. Er fährt eine GSX-R 750 und hat damit bereits etliche Rennstreckentrainings absolviert. Wir sind zügig unterwegs. Die Kawa gleitet durch die Kurven. Bekannte Strecken. Das Tempo nimmt zu. Ich bin auf der Kawa total entspannt, lasse sie jedoch nur noch zwischen Gang 3 und 5 laufen, um über die 4000 U/min zu bleiben, möchte ich doch auf die Leistung zurückgreifen – wenigstens ab und zu, denn darauf zurückgreifen bedeutet immer, den Teufel im Nacken zu spüren und lieber gleich mit 4 Augen den Straßenverlauf zu lesen.
Mich überrascht, dass ich selbst auf Strecken mit engen Kurvenwinkeln die Kawa scheinbar genauso spielerisch durchwedeln lassen kann wie mein Bekannter mit seiner ¾-Gixe. Lediglich beim kräftigen Herausbeschleunigen muss ich die Kawa mit Druck in Schräglage halten. Der Schub lässt die Maschine schnell wieder aufrichten.
Bei einer Pause frage ich meinen Bekannten, warum er heute so touristisch unterwegs sei. Er meint nur, dass er genauso fahre wie sonst auch. Nur habe er einfach nicht nachkommen können, was mich überrascht, bin ich mit der ZZR 1400 meinem Gefühl nach zwar schon zügig, aber eher entspannt gefahren.

Das zeigt das Potenzial, das die Maschine mitbringt. Sie scheint allen Situationen gewachsen zu sein. Für jeden Tempobereich hat sie die richtige Antwort. Die fein dosierbaren Kraftstopper können bei Bedarf zu Verzögerungsmonstern mutieren, wenn sich die beiden vorderen 4-Kolben-Nissin-Zangen in die schwimmenden 310er-Wave-Scheiben verbeißen – Stoppie trotz ABS nicht ausgeschlossen.
Das ABS – ja, auch ein Novum bei Kawasaki in der Hochleistungsklasse. Es wirkt auf Anhieb gelungen, regelt mit kurzen Intervallen ziemlich spät ab, sodass bei sportlicher Fahrweise späte Bremspunkte möglich sind ohne dass das ABS mit einem Öffnen der Bremsanlage vor einer Kurve für Überraschungen sorgt. Eine Testbremsung auf losem feinem Schotter aus ca. 100 km/h verläuft absolut problemlos bis zum Stand. Die Bremsspur bestätigt den Eindruck der kurzen Intervalle.

Der Windschutz sieht im ersten Moment klein – zu klein aus. Irrtum! Bis 200 km/h brauche ich mich noch nicht klein machen. Klar drückt der Wind am Helm, aber es ist leicht zu ertragen, da der Orkan unverwirbelt auftrifft. Über 200 muss ich mich dann verkrümeln und klein machen. Eine Übung, die mit meinem Waschbärbauch nicht immer leicht fällt.
Doch das Potenzial der ZZR auch in diesem Bereich zu testen ist fast ein Muss. Schließlich geht es hier erst richtig los. Hier mutiert die zuerst Sanfte in die Wilde, die sich mit lautem Auspuffschreien Luft macht und ungestüm wie 200 Wildpferde zu rennen beginnt, zu schieben beginnt, dass mir die Spucke wegbleibt und ich nur noch lauthals ein „Boooaaaaahhhhh“ an mein Visier brüllen kann. Das ist der Kick pur. Das ist die rohe Unvernunft. Das ist überflüssig – und genau deshalb so geil. Selbst bei 280 auf der Uhr fühlt sich die Kawa an, als ob sie sich an den Teerbelag saugt. Unruhe bleibt für Rahmen und Fahrwerk ein Fremdwort. Kickbacks bei leichtem Vorderrad ebenso, obwohl auf einen Lenkungsdämpfer verzichtet wurde.

Die Instrumente gerieten ausreichend groß und sehr gut ablesbar. Zwischen analogem Tacho und Drehzahlmesser informiert ein großflächiges LCD-Display über alle wichtigen Daten. Ich empfinde die Größe und Ablesbarkeit als sehr angenehm.

Ja, und wenn es dunkel wird, muss nicht Schluss sein mit schön fahren auf der ZZR. Die Lichtanlage kann die Nacht zum Tag machen. Sowohl das Abblend- als auch das Fernlicht leuchten sehr hell und flächig die Fahrbahn vorbildlich aus. Besser kann das nur die aktuelle Honda VFR 800 ABS.

Mit einem Verbrauch von 6,2 – 8,8 Litern Super kann die Kawasaki ZZR 1400 durchaus kommod bewegt werden. Allerdings sind bei High-Speed-Etappen über 250 km/h auf der freien Autobahn schon mal gut 12 Liter möglich.

Fazit:
Ein tolles Gerät hat Kawasaki auf die Beine gestellt. Abgesehen von der meiner Meinung nach sehr übertriebenen Sanftheit im unteren Drehzahldrittel kann mich die Kawa rundum überzeugen. Wieder ein Motorrad, über das man spricht und das nicht nur durch seine einzigartige Leistungsausbeute bestechen kann.